Biondini, Godard, Niggli im Sudhaus Tübingen 2024
Luciano Biondini – accordion
Michel Godard – tuba, serpent, e-bass
Lucas Niggli – drums, percussion
Tübingen, 2.2.2024
Eigensinn & weiter Horizont
Biondini, Godard & Niggli ziehen das Sudhaus in Bann
Ein italienischer Akkordeonspieler, ein Franzose an Tuba, Serpent und Bass und ein Schlagzeuger aus Zürich. Es gibt geografisch einen Punkt, an dem sich die Heimatländer dieser drei Musiker ganz real treffen: Den Mont Dolent, 3820 Meter hoch, markanter Gipfel in der Nähe des Mont Blanc und sowas wie ein natürlicher Grenzstein. Da nationale Zugehörigkeiten aber vielleicht nicht so entscheidend sind, lädt die Musik dieses Trios ein zu ‚grenzüberschreitenden‚ Klangreisen, die einem Blick vom Gipfel eines hohen Berges ähnlich sind. Da sind eben keine Grenzen zu erkennen. Nur eine bei gutem Wetter wunderbare Bergwelt in allen Himmelsrichtungen. Oder auch schroffe, lebensfeindliche Unwirtlichkeit. Oder das Wissen und Sehnen darum, dass irgendwo ganz weit im Süden ein Meer sein muss, und im Norden womöglich auch. Landen wir auf der Sudhausbühne: Das Akkordeon, vordergründig mit Musette oder italienischen Schmachtmelodien verbandelt, erweitert sein Spektrum um rhythmisch komplexe Figuren, clusterartige Klangflächen und spitze Pizzikato – Stiche. Michel Godard steht in der Mitte der Bühne, er ist mit seinen Tiefton – Instrumenten auch sowas wie eine Basis für die Band, die ständig changiert zwischen kollektiver Abenteuerreise, immer wieder irrwitzigen Soloausflügen der einzelnen Mitspieler und dann bisweilen auch ‚geordneten Abläufen‚ einer Jazzband mit Thema, Solo, klaren Abläufen und Rollenverteilung. Luciano Biondini, Michel Godard und Lucas Niggli laden die Zuhörer*innen fast zwingend ein, dabei zu sein, bei ihrem Wandel und Wechsel, ihren bisweilen rasanten Ritten und lyrischen Verweilpausen.
Wohlklänge, Tonfetzen und Holzsplitter fliegen durch die Luft
Minutiös beobachtend, alle(s) registrierend, keine Millisekunde unaufmerksam, sitzt Lucas Niggli an seinem drumset, um die Themen, Melodien und im Moment entstehenden Ideen seiner Mitspieler zu begleiten, aufzunehmen, sie weiterzuführen und eigene, neue Akzente zu setzten. Drumsticks, Besen, unterschiedlicher Stärke, ein Bogen mit Metallsaite, mit dem sich herrliche Quietscheffekte an den Becken hervorbringen lassen oder immer wieder auch die Hände – Niggli bearbeitet Trommeln, Becken und eine Unzahl an Klangkörpern, mal mitfühlend, hochsensibel und leise, im nächsten Moment energetisch und überraschend, mitunter so hart, dass Holzsplitter durch die Luft fegen. Ruhepol Michel Godard wechselt von seiner mattblau schimmernden Tuba zum e – Bass, wird für ein paar Minuten zum klassischen Bassisten, der den Grundpuls legt für ‚jazzige‘ Passagen, wobei eher wenig aus der klassischen Jazzliteratur & – Harmonik zu hören ist. Tatsächlich ist ‚Unrequited‚ von Brad Mehldau die einzige `Fremdkomposition` des Abends. Aufsehenerregend ist natürlich Godards drittes Instrument, das schlangenförmige Serpent, ein historisches Blasinstrument, mit dem er sein immenses Klangfarbenspektrum um einen rauen Holzton nochmal erweitert. Und Luciano Biondini legt sich immer wieder– so scheint es – fast hinein in die Klanglandschaften, die er ständig neu und immer wieder anders mit seinem Akkordeon entstehen lässt. In der Musik dieses außergewöhnlichen Trios sind alle Musiktraditionen enthalten, vermischen sich, werden zu einer eigenen und neuen Musik. Sie führen in die Weite und sind unglaublich nah. Biondini, Godard, Niggli, das ist ein Trio, das nicht nur einen Gipfel erreicht, sondern das das Publikum mitnimmt zu seiner genussvollen Gratwanderung, die, auch wenn sie oft ins Ungewisse führt, sicheres Ankommen verspricht.
Tom Hagenauer
Portraits von Luciano Biondini
Portraits von Michel Godard
Portraits von Lucas Niggli