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MISTY — Dokumentarfilm von Georges Gachot

Misty - Dokumentarfilm von Georges Gachot
Misty – Dokumentarfilm von Georges Gachot

Der Mann mit den vierzig Fingern und der einsame Trompeter

Exklusive Filmpreview „Misty“, eine Dokumentation über den Pianisten Erroll Garner und ein Solokonzert des norwegischen Trompeters Nils Petter Molvaer im Theaterhaus Stuttgart

Einsam fühlt man sich an diesem Montagabend im Stuttgarter Theaterhaus, denn der übliche Betrieb mit drei verschiedenen Veranstaltungen findet an diesem Abend nicht statt. Von daher wirken die etwa 150 Besucher relativ verloren in der großen Eingangshalle. Grund der Anwesenheit dieser wahrscheinlich zum großen Teil aus Jazzinsidern bestehenden Gemeinde ist der Film „Misty“ über den amerikanischen Jazzpianisten Erroll Garner, der die Musikszene ab den fünfziger Jahren über Jahrzehnte hinweg  wesentlich beeinflusst, geprägt und für immer verändert hat. Erroll Garner, der geniale Autodidakt, der nie Noten lesen konnte, aber unvergessliche Stücke komponiert hat. Misty, das Stück, nach dem Film benannt wurde, ist bis heute eine der meist gecoverten Balladen der Welt und zählt zu den großen Standards in der Jazzszene.

Filmpreview MISTY — Dokumentarfilm von Georges Gachot und Nils Petter Molvaer live
Jörg Siepmann, Nils Petter Molvaer, Georges Gachot
Filmpreview MISTY — Dokumentarfilm von Georges Gachot und Nils Petter Molvaer live
Joachim Kühn, Nils Petter Molvaer, Georges Gachot

Ein historisches Dokument über den kleinen Mann aus den Ghettos in Pittsburgh

Der französische Regisseur Georges Gachot, der an diesem Abend im Theaterhaus auch anwesend ist, konnte bei seinen Recherchen zum Film aus dem Vollen schöpfen. Von nahezu keinem anderen Jazzvirtuosen existieren dermaßen viele Konzertaufzeichnungen und Talkshow-Auftritte wie von dem 1977 leider viel zu früh verstorbenen Garner. Die ganzen Superlativen, die Garner in sich vereinigt sind in dem 100-minütigen Film wunderbar dokumentiert und so manch ein Unwissender mag beim Sehen dieses Films vielleicht tiefe Dankbarkeit empfinden, nun von diesem kapitalen Unwissen erlöst zu werden. Garner der in den Ghettos von Pittsburgh aufwuchs war ein Piano-Genie, ein Mann für den das Klavier erfunden wurde und der so schnell spielte, als habe er vierzig Finger. Und vor allem war er ein Naturtalent, das keiner Ausbildung bedurfte. Er war auch der erste Jazzkünstler, der ein Album einspielte, dass über eine Million Mal verkauft wurde. Seinen Klassiker „Misty“ wird wahrscheinlich jeder schon einmal gehört haben, sei es als Fahrstuhlmusik oder als Leitmotiv in Clint Eastwoods Regiedebüt, dem Kinofilm „Sadistico“.

Erroll Garner in Concert
Erroll Garner in Concert

Die Zeitzeugen, die emotionalen Abgründe und Risse eines Lebens

Garner der immer lächelnde und stets freundliche Mann spielte niemals ein Stück zweimal auf die gleiche Weise. Sein Mitspieler mussten sich intuitiv auf sein Spiel einlassen – geprobt wurde, wenn überhaupt, meist erst vor dem ersten Auftritt. Spielen war für Garner eine schweißtreibende aber fröhliche Arbeit, die das Publikum beglückte und er konnte sich auf seine Mitmusiker verlassen, die aus dem Stehgreif das Ganze begleiteten, Solos spielten sie niemals, das war alles dem Genie an den Tasten vorbehalten. Regisseur Gachot erzählt von seiner Spurensuche nach Dokumenten und Überlebenden aus dieser Zeit und dem Glück, drei musikalische Begleiter Garners aufgespürt zu haben. Zwei seiner Bassisten und der langjährige Schlagzeuger Garners geben Auskunft über die Freude und die Pein dieser Zusammenarbeit. Irgendwann löst sich der Film von den historischen Aufnahmen und landet in der Gegenwart bei Garners Tochter, die er nie anerkannt hat, und bei seiner letzten Lebensgefährtin. In den Interviews und den überlieferten Bildern tun sich emotionale Abgründe und Risse auf, die zuweilen etwas Voyeuristisches haben, die aber ihr Recht einfordern öffentlich zu sein. Es ist ein stimmungsvoller und kurzweiliger Film, was auch dem Kameramann Filip Zumbrunns zu verdanken ist, dem es gelungen ist äußerst poetische Bilder zu komponieren. Apropos komponieren, der großartige norwegische Trompeter Nils Petter Molvaer steuert einen wunderbaren zusätzlichen Soundtrack bei und ist im Film selbst in einigen Szenen zu sehen.

Nils Peter Molvaer solo im Theaterhaus Stuttgart 2024
Nils Peter Molvaer solo im Theaterhaus Stuttgart 2024

Der einsame Mann mit der Trompete

Auch besagter Nils Petter Molvaer war an diesem Abend persönlich anwesend und ließ es sich nicht nehmen, diese Veranstaltung mit einem atmosphärisch äußerst dichtem einstündigem Solokonzert ausklingen zu lassen. Einsam auf dem Stuhl sitzend in rot-blaues gedämpftes Licht getaucht, in sich versunken gab es nun einen völlig anderen Sound wie zuvor in der Erroll Garner Dokumentation. Ein Gegenpol der aber durchaus gut passte, denn Molvaer ist die Improvisationskunst genauso geläufig wie dem Klavier-Genie. Mal mystisch schwebend, mal gesampelte Rhythmik aus dem Laptop als Untermalung. Immer wieder verblüffend was ein einzelner Musiker mit dieser technischen Unterstützung für voluminöse Soundgebilde erzeugen kann. Dieser Abend war eine wohltuende, erhellende und musikalisch einzigartige Melange, die man durchaus öfters wiederholen könnte. Zu hoffen ist das dieses besondere Film-dokument ein größeres Publikum als bisherige Jazzdokumentationen erreicht und dazu beiträgt, die Genialität des Erroll Garner bei mehr Jazzfans publik zu machen.

Harald Kümmel

Portraits von Nils Petter Molvaer