Don Quijote und der Jazz – Teil 1

Klaus Huckerts Jazz Ecke
Klaus Huckerts Jazz Ecke

Bemerkungen zu dem gleichnamigen Aufsatz von Prof. Dr. Hans Christian Hagedorn

1. Vorbemerkungen

Seit etwa einem Jahrhundert besteht eine wechselseitige Beziehung zwischen literarischen Texten und Jazz. Beide Kunstformen haben viele Gemeinsamkeiten, darunter die Improvisation, den Rhythmus, die emotionale Ausdruckskraft und die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Literatur-Werke wie Hamlet, Othello, Werther, Faust, Moby Dick, Tom Sawyer und Huckleberry Finn haben Jazzmusiker zu Einzelkompositionen und Suiten inspiriert. Umgekehrt hat der Jazz auch in der schöngeistigen Literatur Spuren hinterlassen. So haben das tragisch kurze Leben und der innovative Früh-Jazz des Kornettisten Bix Beiderbecke zu dem Roman Young Man with a Horn (1938) von Dorothy Baker angeregt. Auf den Saxophonisten und Miterfinder des Bebop Charlie Parker verweist die Erzählung El Perseguidor (1959) von Julio Cortázar. Im deutschsprachigen Raum beeinflusste diese Musik beispielsweise die Romane Jazz (1927) von Hans Janowitz, Tauben im Gras (1951) von Wolfgang Koeppen oder Fred Kemper oder die Magie des Jazz (2011) von Stefan Sprang.

Prof. Dr. Hans Christian Hagedorn
Prof. Dr. Hans Christian Hagedorn

2022 erschien ein umfangreicher Aufsatz von Prof. Dr. Hans Christian Hagedorn von der Universidad Castilla-La Mancha in Spanien, der den Einfluss des Romans Don Quijote von Miguel de Cervantes auf Jazzkompositionen und -aufnahmen zwischen 1925 und 2022 untersucht. Er nennt dort über 200 Beispiele von Jazzstücken, die sich auf diesen Roman beziehen.

Die Handlung des Romans selbst lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: der spanische Landjunker Alonso Quijano wird vom exzessiven Lesen mittelalterlicher Ritterromane verrückt und beschließt, selbst als fahrender Ritter gegen alles Übel in der Welt zu kämpfen. Dazu benennt er sich um in Don Quijote de la Mancha, lässt sich in einem Landgasthof vom Wirt zum Ritter schlagen, und zieht dann auf seinem alten Klepper Rosinante und in Begleitung seines Schildknappen Sancho Panza – eigentlich ein Feldarbeiter aus der Nachbarschaft – durch die Lande. Dabei erlebt er zahlreiche Abenteuer. Eine der berühmtesten Episoden ist sein Kampf gegen die Windmühlen, in denen er böse Riesen zu erkennen meint. Diese ikonische Szene ist auf der ganzen Welt sprichwörtlich geworden. All dies tut er zu Ehren der Dame seines Herzens, Dulcinea, eine Frau aus einem Nachbardorf, mit der er nie gesprochen hat.

2. Zusammenfassende Informationen und Anmerkungen

2. 1 Methodologische Herangehensweise

Ich möchte diese Anmerkungen mit einem persönlichen Statement beginnen. Im Alter von etwa 16 Jahren las ich den Roman Don Quijote. Seitdem habe ich mich nicht mehr intensiv damit auseinandergesetzt. Es überrascht mich, dass dieses Werk der Weltliteratur einen so großen Einfluss auf Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker ausgeübt hat. In seinem Essay listet Hans Christian Hagedorn rund 200 Kompositionen (Einzeltitel, Suiten, ganze Alben) auf, die Bezüge zum Jazz aufweisen. Die Definition des Begriffs Jazz ist natürlich schwierig und vielschichtig. Hagedorn wählt eine pragmatische Herangehensweise an das Thema Jazz. In einem Interview mit Radio 700 sagte er: „Wenn ich in diesem Aufsatz versucht hätte zu definieren, was Jazz eigentlich ist und wie man den ‚echten‘, ‚reinen‘ oder ‚wahren‘ Jazz erkennen kann, wäre ich in Schwierigkeiten geraten. Daher habe ich das Problem umgangen und stattdessen alle möglichen Epochen und Stile des Jazz sowie Mischformen berücksichtigt: New Orleans-Jazz, Swing, Bebop, Modal Jazz, Free Jazz, Jazz-Rock, Smooth Jazz usw., bis hin zu Stilen wie Hip Hop, House und Ambient, sofern deutliche Jazz-Einflüsse hörbar sind. Ich gebe zu, dass über den Einfluss des Jazz in einigen Stücken durchaus diskutiert werden könnte; dies nehme ich jedoch gerne in Kauf, um ein umfassendes Bild zu zeichnen“.

Zehn Jahre Recherche

Über fast ein Jahrzehnt hat der Autor versucht, Jazzstücke über Don Quijote zu finden. Dazu dienten ihm öffentliche Datenbanken, z.B. Discogs.com, Webportale und -seiten und Streaming-Plattformen wie YouTube, Spotify, Amazon Music, SoundCloud oder Bandcamp. Natürlich wurden auch Archive wie das Klaus-Kuhnke-Institut für Populäre Musik in Bremen, die Rodgers and Hammerstein Archives of Recorded Sound in der New York Public Library for the Performing Arts oder der Meta-Katalog WorldCat berücksichtigt. Auch die Kommunikation mit Jazzmusikern war in der systematischen Suchmethodik eingeschlossen. Wurden Musiktitel mit Bezug zu Don Quijote gefunden, dann wurden in etlichen Fällen auch Interpreten und Komponisten gefragt, ob die gefundenen Titel mit dem Roman über Don Quijote in Verbindung standen. Eine Sisyphus-Arbeit, die auch von einigen Misserfolgen begleitet war. Sei es durch Irrtümer oder Verwechselungen, unrichtige Vermutungen oder durch Nichtreaktion der Musiker oder Komponisten auf die Anfragen. Welcher Aufwand betrieben wurde, ist im Fall von Ron Westray’s Don-Quijote-Vertonung Chivalrous Misdemeanors zu erahnen. Das genannte Werk wurde im Jahre 2005 uraufgeführt mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra unter der Leitung von Wynton Marsalis. Den Mitschnitt dieses zweistündigen Konzerts kann man heute nur noch in der Stadtbibliothek in New York auffinden, da er nicht auf Platte verfügbar ist. Was blieb Prof. Hagedorn anderes übrig als nach New York zu fliegen, um sich das Werk anzuhören!

2.2 Statistische Untersuchungen zu Jazzaufnahmen bezüglich Don Quijote

Basis der Auswertungen ist eine Tabelle mit ca. 200 Datensätzen zu Jazzaufnahmen bezüglich Don Quijote. Jeder einzelne Eintrag enthält das Jahr der Veröffentlichung, den Komponisten/Lyriker, den Musiker oder die Musik-Gruppe, das Land, dem dieser Musiktitel zugeordnet werden kann. Weiterhin der Typ des Musikstückes und den Albumtitel, u. U. das Veröffentlichungslabel und die Verfügbarkeit auf unterschiedlichen Web-/Streamingmedien. In einem Freitext-Feld werden zusätzliche textuelle Informationen bereitgestellt. Beispielsweise sieht ein Eintrag in der grundlegenden Datenbasis – ohne Freitexte – so aus:

Tabelle zu Don Quichotte
Grundlegenden Datenbasis – Auszug

Die statistische Analyse gestaltet sich besonders anspruchsvoll im Datenfeld „Co. = Country“ (Land), da hier teilweise subjektive Zuordnungen von Hagedorn erforderlich waren. Ein Beispiel hierfür ist der Titel The Windmills Of Your Mind, der drei Ländern zugeordnet ist. Bei Auswertungen würde dieser Titel daher dreifach erscheinen, wenn die Daten nach Ländern zusammengefasst werden. Zudem ergeben sich bei der automatisierten, quantitativen Analyse einige, jedoch behebbare Probleme aufgrund der freien Texte zu jedem Titel.

Doch nun zu einigen Ergebnissen:

– Bei der Untersuchung der Häufigkeit von Titeln aus dem 20. und 21. Jahrhundert zeigt sich, dass etwa ein Drittel der Titel im 20. Jahrhundert und zwei Drittel im 21. Jahrhundert entstanden sind. Die häufigsten Veröffentlichungsjahre sind 2017 und 2018 mit jeweils 12 bzw. neun Veröffentlichungen. Ebenfalls wurden neun Veröffentlichungen in den Jahren 2002, 2012 und 2014 festgestellt. Keine Veröffentlichungen sind in der Zeit von 1930 bis 1945 zu finden, was von Hagedorn als „The Swing Era Gap“ bezeichnet wird. Die genauen Gründe für diese Lücke müssten erforscht werden, jedoch ist es fraglich, ob ein schlüssiges und belegbares Ergebnis erzielt werden kann.

– Die Analyse des Datenfelds „Country“ (mit Zuordnung zu mehreren Ländern) ergibt folgendes Bild: Amerika (56 Titel), Frankreich (26 Titel), England (22 Titel), Deutschland (18 Titel), Brasilien (15 Titel). Besonders auffällig in dieser Darstellung, die auch nach größeren Kulturkreisen im Aufsatz (z.B. Europa oder deutscher Sprachraum) aufgeführt sind, ist Spanien. Obwohl es als Herkunftsland von Miguel de Cervantes und Don Quijote eine bedeutende kulturelle Rolle spielt, sind lediglich acht Werke aus oder mit Bezug zu Spanien verzeichnet. Hagedorn führt dies unter anderem auf zwei Faktoren zurück: den Bürgerkrieg und die Franco-Regimezeit von 1939 bis 1975. In dieser Zeit gab es nur wenige Jazz-Aktivitäten im Land. Nach der langen Isolation während der Franco-Ära suchten spanische Jazz-Musiker insbesondere außerhalb Spaniens nach Inspiration. Sie distanzierten sich radikal von der als zu patriotisch empfundenen heimischen Kultur. Hagedorn betont jedoch, dass dies spekulativ ist. Spanische Musiker, die befragt wurden, konnten keine eindeutigen Hinweise auf diese Lücke in ihrem Land liefern.

– Hagedorn bietet dann Listen von illustren Komponisten und Musikern an, die Werke zum Sujet Don Quijote kreiert haben. Im Prinzip das „Who is Who“ der Gattung Jazz. Weiterhin erscheinen Auswertungen zu dem Typ der Werke (Song, Instrumental, Wortbeiträge mit integrierter Musik). Auch quantitative Ergebnisse zum Vorkommen von Agierenden und Handlungsorten im Roman werden präsentiert.

Fazit

Hans Christian Hagedorn ist es gelungen, ein bisher nicht erforschtes Teil-Gebiet in den Bereichen Literatur und Jazz konsequent zu analysieren. Diese Arbeit könnte dazu beitragen, die Bedeutung des Jazz und der Literatur und der Zusammenhänge zwischen beiden Künsten zu verdeutlichen und in neuem Licht erscheinen zu lassen: dies ein großer Nutzen und ein wirklich positiver, praktischer Ertrag. Insbesondere könnte das Schema der Datenbasis für weitere Untersuchungen zu anderen Literaturwerken und Jazz übernommen werden. Sinnvoll wäre hier ein Ansatz aus der Informatik mit Hilfe von objekt-relationalen Datenbanken. Die genannte Technologie stellt nach der Erfassung der Informationen Werkzeuge zur Verfügung, die Auswertung und Verdichtung von Informationen in jeder denkbaren Richtung bzw. Verdichtungsstufe unterstützt. Und wenn dadurch ein wenig Neugierde geweckt wird auf diese wunderbaren Werke im Jazz und in der Literatur, wäre das sozusagen das Tüpfelchen auf dem „i“.

Zusammenfassender Bericht: Klaus Huckert


Die vorstehenden Bemerkungen sind im Wesentlichen eine Zusammenfassung von zwei Quellen:

Hagedorn, Hans Christian. 2022. “Don Quixote’s Adventures in the World of Jazz: 200 Examples and a Few Remarks”. Anales Cervantinos 54: 101-173.

Hagedorn, Hans Christian / Huckert, Klaus / Lorenz, Uwe: Sendemanuskript „Don Quijote und der Jazz“ für Radio 700 Jazz-Cocktail am 22.04.2024 18.55 -20.00 Uhr

Der 2. Teil „Ausgewählte Jazz-Titel zum Roman Don Quijote“ in Kürze hier