Don Quijote und der Jazz – Teil 2

Klaus Huckerts Jazz Ecke

Ausgewählte Jazz-Titel zum Roman Don Quijote

In diesem Beitrag wollen wir einige der fast 200 Jazz-Titel vorstellen, die Hans Christian Hagedorn lokalisiert hat und die zu großen Teilen in einer Playlist bei Youtube hinterlegt sind.

Der Verfasser dieses Beitrags möchte betonen, dass die präsentierten Titel aus persönlichen, musikalischen Gründen ausgewählt wurden. Diese Auswahl ist daher subjektiv und sollte nicht als Qualitätsindikator betrachtet werden. Es stellt sich die Frage, wie der Roman im Jazz musikalisch interpretiert werden kann. Generell hat Hagedorn dies in einem Radio-Interview erläutert:

„Grundsätzlich gibt es im Jazz ganz verschiedene Herangehensweisen, von der einfachen Anspielung über die musikalische Skizze bis zur regelrechten Vertonung. Und natürlich verwenden die Jazzmusiker und -komponisten bei der Verarbeitung des literarischen Stoffes auch ganz unterschiedliche musikalische Mittel. Das reicht z.B. von Anspielungen auf den Flamenco und auf einzelne Werke der spanischen Musik über den Einsatz typisch spanischer Instrumente wie der klassischen Gitarre, der Flamenco-Gitarre, der Kastagnetten bis hin zum Einsatz bestimmter Motive und Strukturen, die einzelne Figuren, Szenen oder Merkmale des Romans imitieren oder anklingen lassen sollen.

In manchen Stücken werden Fanfaren eingesetzt, um an die Kavallerie und damit indirekt an Don Quijotes Status als fahrender Ritter zu erinnern; so etwa bei Krzysztof Komeda, Tom Harrell oder Vince Mendoza. Bei Susan Weinert z.B. sind durch den Einsatz der akustischen Gitarre und durch die Verwendung bestimmter Harmoniewechsel Anklänge an die klassische spanische Musik und an den Flamenco zu hören; bei Peter White wird derselbe Effekt durch den Einsatz der Akustik-Gitarre in Kombination mit Kastagnetten erzielt. Die Amerikaner Matt Brewer und Tom Harrell wiederum verwenden kurze, sich kreisförmig wiederholende Melodien oder Motive, um damit das Rotieren der Windmühlenflügel zu illustrieren, in der berühmten Episode, in der Don Quijote sich fast den Hals bricht, als er die vermeintlichen Riesen mit seiner Lanze aufzuspießen versucht. Oder nehmen wir etwa das Instrumentalstück Dulcinea des australischen Flötisten und Saxophonisten Ray Swinfield: es basiert auf der berühmten Tremolo-Etüde Recuerdos de la Alhambra des spanischen Komponisten Francisco Tárrega von 1896. Tatsächlich ist all dies eine der spannendsten Fragen bei diesem Thema, denn der Einfallsreichtum der Jazzmusiker in dieser Sache ist schier unerschöpflich.“

Wir beabsichtigen, verschiedene Stücke aus der Playlist oder seltene Plattenaufnahmen zu analysieren. Hierbei werden wir uns auf im Roman vorkommende Agierende und Schauplätze konzentrieren. Die musikalische Interpretation der Stücke hängt natürlich von der Fantasie des Autors ab.

Person: Don Quijote

Aufnahme: Susan und Martin Weinert / Don Q

Im Jahr 2002 veröffentlichte das Duo Susan und Martin Weinert auf ihrem Album Synergy den Titel Don Q. Beide renommierten Musiker, die in verschiedenen Formationen der deutschen Jazzszene aktiv waren, begannen ihre Karriere im Bereich des elektrischen Fusion-Jazz. Von 1999 bis 2020 widmeten sie sich eher dem akustischen Jazz mit weltmusikalischem Charakter. Die Aufnahme zeichnet sich durch eine gelungene Verschmelzung von klassischer, spanischer Gitarrenmusik und Jazz-Elementen aus. Techniken für die akustische Gitarre wie Tremolo und diverse Anschlagsformen finden Verwendung. Mit einem freien Tempo erzeugt die Gitarre eine ruhige, träumerische Atmosphäre, die gelegentlich von virtuosen Läufen unterbrochen wird. Diese musikalische Interpretation spiegelt teilweise das Wesen von Don Quijote wider.

Aufnahme: Luiz Bonfá / Don Quixote

Luiz Bonfá, ein brasilianischer Gitarrist, Sänger und Komponist, ist tief im Bossa Nova verwurzelt und hat in seinem Album Jacaranda von 1973 Tribut an Don Quijote gezollt. Er verfolgt musikalisch den Weg des Ritters. Das besagte Stück besteht thematisch aus vier Teilen. Ein ostinater Bass (Vamp) mit Rhythmusgitarre und Percussion symbolisiert die abenteuerlichen Wege von Don Quijote und Sancho Panza auf ihren Reittieren. Der zweite Teil zeichnet sich durch den Einsatz positiver und melodischer Chorstimmen aus, die die Vorfreude auf bevorstehende Abenteuer verdeutlichen soll. Anschließend erfolgt eine Rückkehr zum erwähnten Vamp, während das nächste Abenteuer bevorsteht. Die Rhythmusgitarre erzeugt bedrohliche Flamenco-Klänge, unterstützt von einer beunruhigenden Querflöte, die Angst, Gefahr, Kampf und Niederlage andeutet. Zum Schluss tritt eine Beruhigung durch den Vamp ein.

Aufnahme: Egberto Gismonti / Don Quixote

Die Aufnahme mit Egberto Gismonti entführt nach Brasilien. Der vielseitige Multiinstrumentalist vereint in seinen Kompositionen Folklore, moderne Kammermusik und Jazz zu einer einzigartigen musikalischen Fusion. In seinem Stück Don Quixote  (1981) verschmilzt er den Rhythmus der brasilianischen Musik mit Elementen aus Weltmusik à la Jan Garbarek, Pop-Elementen und elektronischen Einflüssen sowie Free-Jazz-Elementen. Der Song beginnt mit einer Reise zu einem Abenteuer. Don Quixote ist optimistisch gestimmt. Ein knurriger Bass soll wohl Sancho symbolisieren, der seinen Herrn von den Höhen der Euphorie herunterholen will. Mitten im Song dann eine albtraumhafte Wendung. Das Sopran-Saxophon liefert sich mit dem Bass und Klavier eine wahre Kakophonie, die Bedrohung und Verwirrung stiftet. Dramatische Triller vom Saxophon beenden diese Sequenz. Der Kampf und die Gefahr sind zu Ende. Optimistisch gestimmt kann es zum nächsten Abenteuer kommen.

Aufnahme: Vince Mendoza und WDR-Big Band / Quixote

Vorweg sei gesagt, dass das genannte Werk (siehe WDR oder YouTube) für den Autor eine der stärksten und innovativsten Kompositionen darstellt. Vince Mendoza, ein renommierter Komponist, Arrangeur und Big-Band-Leiter, komponierte, arrangierte und führte dieses Stück 2017 als Composer in Residence in Köln auf. Neben der eigentlichen Big Band sind Tuba und Percussion-Instrumente integriert. Das Tongedicht beginnt mit einer kurzen Einleitung, gefolgt von einer Percussion-Sequenz, die Pferdegetrappel imitiert. Darüber setzt ein melancholisches Sopran-Saxophon ein, das vermutlich den Gemütszustand des Protagonisten beschreibt. In freiem Tempo wechselt dieses zum Gesamtorchester, das massive und kraftvolle Klänge spielt, die möglicherweise Kampfsituationen darstellen. Ein Piano leitet zu einer “donquichottesken” Situation über, die beispielsweise den Windmühlenkampf symbolisieren kann. Eine neue Version der Komposition wurde 2022 mit dem niederländischen Metropole Orkest veröffentlicht. Mehrfaches Hören und Sehen des Videos erleichtert den Zugang zu diesem Stück.

Person: Sancho Panza

Aufnahme: Sonny Stitt / Sancho Panza

Eine Aufnahme des Bebop- und Hardbop-Saxophonisten Sonny Stitt, die dem Knappen von Don Quijote, Sancho Panza gewidmet ist. Diese Aufnahme entstand 1953. Daran haben mitgewirkt Musiker wie Kai Winding an der Posaune, Horace Silver am Piano und Charles Mingus am Kontrabass. Der Song versucht die Charakterzüge des Protagonisten musikalisch zu beschreiben. Lustig, fröhlich, humorvoll lässt sich dieser Jazz-Titel beschreiben. Exzellente Improvisations-Soli sind von Sonny Stitt und Kai Winding zu hören.

Aufnahme: Kenny Wheeler, John Dankworth Orchestra / Sancho

 Der kanadische Flügelhornspieler Kenny Wheeler, der lange Zeit in Großbritannien tätig war, komponierte die Jazz-Suite Windmill Tilter (dt. Windmühlen-Kämpfer). Die Suite umfasst insgesamt neun Aufnahmen, die sich mit dem Roman befassen. In Jazzkreisen wurde die genannte Suite lange Zeit als „Gral des britischen Jazz“ bezeichnet. Die Aufnahme des Titels Sancho aus der genannten Jazz-Suite entstand 1969 in Zusammenarbeit von Kenny mit dem neunzehnköpfigen John Dankworth Orchestra. Weltklasse-Musiker wie Dave Holland oder John McLaughlin waren Mitglied dieser Big Band.

Eine Glanzleistung von Kenny Wheeler, der im Stil von Bill Russo bzw. Gunther Schuller diese Nummer im „Third Stream“-orchestralen Big Band-Jazz aufbereitet hat. Das Stück beginnt mit der Imitierung eines Rittes von Don Quijote und seinem Schildknappen zu einem Abenteuer. Danach erklingt ein kurzes Flügelhornsolo von Kenny, das von einem melodiösen Alt-Saxophon-Solo von John Dankworth abgelöst wird. Kraftvoll und majestätisch klingt die Big Band dazu, wobei Blechblasinstrumente wie vier Trompeten, zwei Posaunen und eine Tuba dieses Klangbild dominieren. Dynamische Kontraste in der Lautstärke verstärken den ungemein positiven Charakter des Stückes.

Aufnahme: Claude Nougaro / Don Quichotte et Sancho

Claude Nougaro war ein angesehener französischer Chanson- und Jazzsänger, der auch als Texter bekannt war. Auf seinem Album L’enfant phare (deutsch: Leuchtturmkind bzw. Vorzeigekind) aus dem Jahr 1997 findet sich der Titel Don Quichotte et Sancho, eine faszinierende Fusion von Renaissancemusik, Chanson und Jazz. Der Songtext knüpft an den Roman an und erzählt von der Liebe des Sängers zur Poesie und zur Utopie. Er beschreibt die Poesie als sein „dada“ (Steckenpferd) und die Utopie als sein „topo“ (zentrales Gedankengut). Dabei betont er, dass es ihm nichts ausmacht, als verrückt oder exzentrisch angesehen zu werden, solange er seine Leidenschaft für Poesie und Utopie bewahren kann. In einer Analogie zu Don Quichotte und Sancho kämpft er für seine Träume und ermutigt die Zuhörer dazu, ihren Vorlieben nachzugehen und an ihre Träume zu glauben. Musikalisch betrachtet kann der Song als modernisierte Renaissancemusik des 15./16. Jahrhunderts mit Jazz-Einflüssen interpretiert werden. Das Stück beginnt in einem 3/4-Takt (notiert als 9/8), wechselt jedoch zwischenzeitlich zu rhythmisch akzentuierten Passagen im 2/4-Takt. Diese Struktur war in der Renaissance sowie in der europäischen Tanzmusik des 14.-17. Jahrhunderts üblich. Das Arrangement stammt vom französischen Jazz-Organisten Eddy Louiss und setzt sich nach mehrmaligem Anhören im Kopf fest.

Person: Dulcinea

Aufnahme: Efim Schachmeister und sein Jazz-Symphony Orchester / Dulcinea

Im Jahr 1928 entstand Dulcinea unter der Leitung durch den Geiger und Kapellmeister Efim Schachmeister mit seinem Tanzorchester (auch als Jazz-Symphony-Orchester bezeichnet) in Berlin.

Das Orchester von Efim Schachmeister bestand in der Regel aus 12-15 Musikern. Drei Saxophone (auch Klarinette), Piano, zwei Violinen, Banjo, Schlagzeug, Tuba (Sousaphon), 2 Trompeten und 1-2 Posaunen bildeten das Orchester. Die genannte Schallplattenproduktion wird dem Früh-Jazz in Deutschland zugeordnet. In Jazzkreisen wird der präsentierte Musikstil im Allgemeinen als „synkopierte Tanzmusik“ bezeichnet. Der Song Dulcinea besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen, die im 4/4 Takt gespielt werden. Einen Teil kann man sich als Schwärmerei von Don Quijote für seine Angebetete vorstellen, den zweiten Teil als Auftritt des eingebildeten, stolzen Ritters. Nur eine kleine Jazzimprovisation ist durch eine Klarinette zu hören. In der Playlist finden sich insgesamt vierzehn Titel, die auf Dulcinea Bezug nehmen.

Handlungs-Ort: Windmühlenkampf

Aufnahme: Oscar Peterson Trio / The Windmills of Your Mind

Der Titel stammt aus der Feder von Michel Legrand, der die Ballade The Windmills of Your Mind für den Film The Thomas Crown Affair (1968) komponierte. Obwohl der Text dieses ursprünglichen Pop-Songs nicht direkt auf Don Quijote Bezug nimmt, ist die thematische Parallele zum Kampf gegen Windmühlen offensichtlich. Der Jazz-Pianist Oscar Peterson hat sich intensiv mit diesem Werk auseinandergesetzt und eine beeindruckende Neuinterpretation geschaffen, die durch virtuose Jazz-Improvisationen besticht. Mit jazzigen Akkorden und rasanten Sechzehntel-Läufen verwandelt Peterson das ursprünglich verträumte Lied in ein atemberaubendes Stück, das die geistigen Verwirrungen und Gedankengänge von Don Quijote auf faszinierende Weise darstellt. Hagedorn erwähnt in seinem Artikel übrigens 29 weitere Versionen aus den Bereichen Pop und Jazz, u.a. die sehr jazzige Neuaufnahme von Sting für das Remake des Films aus dem Jahr 1999.

Handlungsort: Höhle von Montesinos

Aufnahme: Kenny Wheeler, John Dankworth Orchestra / The Cave of Montesinos

Auf seiner Abenteuer-Reise seilte Sancho Pansa Don Quijote in die finstere Tiefe der Höhle von Montesinos ab. Schon in der ersten Höhlen-Kammer wurde Don Quijote müde und schlief ein. In seinem Traum sah er einen unterirdischen, durchsichtigen Kristallpalast, aus dem ein Greis hervortrat, der erzählte, dass sein Name Montesinos sei – der Name also, dem die inmitten der Mancha bei den Seen von Ruidera gelegenen Höhle ihren Namen verdankt. Der Magier Merlin hatte ihn mit seinem Zauber in die Höhle verbannt. Don Quijote wird von Fledermäusen geweckt und dachte, dass er drei Tage in der Höhle war. Sancho Pansa erzählte ihm aber, dass er nur eine Stunde in der Höhle war.

Das gesamte Orchester verbreitet zu Anfang des Stückes massive, tiefklingende Töne, die beim Zuhörer eine gespenstische Atmosphäre erzeugen, wie sie in dunklen Höhlen herrschen kann. Das Erscheinen Montesinos wird durch Kennys improvisatorisches Flügelhornspiel symbolisiert. Ein weiteres, geniales Beispiel für den Third Stream-Ansatz der gesamten Jazz-Suite.

Handlungsort: Barataria

Aufnahme: The Halfway Orchestra / Barataria

In dem Roman ist Barataria eine fiktive Insel, die Sancho Panza als Belohnung für seine ergebenen Dienste versprochen wurde. Das Versprechen, über Barataria zu herrschen, befeuert Sanchos Träume und Erwartungen. Seine Urteile und Verfügungen als Gouverneur der Insel sind geprägt von einem natürlichen Verständnis für Gerechtigkeit und menschliche Natur. Anstatt in einem komödiantischen Umfeld zum Narren zu werden, verwandelt Sancho Barataria in eine Bühne, auf der er seine wahre Weisheit und Führungsstärke zur Schau stellt.

1925 entstand durch das Halfway House Orchestra die Plattenaufnahme zu Barataria. Das Halfway House Orchestra war eine siebenköpfige Band, die von 1919 – 1928 bestand und in New Orleans beheimatet war. Im frühen New Orleans-Stil entstand durch den Schlagzeuger Leo Adde und den Banjospieler Bill Eastwood der genannte Titel. Ein fröhlicher, relaxter, unkomplizierter Früh-Jazz Titel, der im Wesentlichen wohl den Charakter von Sancho Panza beschreibt. Zugleich nimmt dieser Titel Bezug auf die südlich von New Orleans gelegene Insel im Mississippi-Delta, die nach dem Ort in Miguel de Cervantes‘ Roman benannt ist.

Aufnahme: Stephane Grappelli, Orchestre Christian Chevallier / Barataria

Stephane Grappelli, ehemaliges Mitglied des Hot Club de France, war Jazz-Violinist und nahm 1977 die Platte Stephane Grappelli + Cordes auf. Auf ihr findet sich der von Christian Chevallier komponierte Titel Barataria. Nach seiner Zeit mit Gypsy-Swing (1934 bis etwa 1950) zelebrierte Grappelli in den siebziger Jahren Balladen mit unübertrefflicher, klanglicher Weichheit.

Barataria ist eine Ballade, die mit stilistischen Neuerungen des Swing-Altmeisters glänzt. Fender-Rhodes-Piano, Synthesizer, Percussion bilden die Basis für sein verträumtes Geigen-Spiel. Traumartige, schwebende, positive Grundstimmung bilden die Basis des Songs, unterbrochen von kurzen Jazz-Improvisations-Einwürfen. Eine wahre Huldigung an den Gouverneur von Barataria, Sancho Panza.

Klaus Huckert


Quelle: Hagedorn, Hans Christian / Huckert, Klaus / Lorenz, Uwe: Sendemanuskript „Don Quijote und der Jazz“ für Radio 700 Jazz-Cocktail am 22.04.2024 18.55 -20.00 Uhr Hier der zugehörige Link zum Sendemanuskript auf LinkedIn.

Hier der Artikel Don Quijote und der Jazz – Teil 1