Ketil Bjørnstad Piano solo in der Dieselstrasse Esslingen 2024
Ketil Bjørnstad – Piano
Esslingen, 15.12.2024
Nordische Lyrik aus schwarzweißen Tasten
Nicht die allseits beliebte Mischung „Poesie und Musik“ war an diesem Sonntag Abend im vollbesetzten Kulturzentrum Dieselstraße in Esslingen zu Gast, sondern es war der norwegische Literat und Musiker Ketil Bjørnstad, der hier musikalisch-literarische Feinkost 90 Minuten lang servierte. Bjørnstad, der in seiner norwegischen Heimat als hochangesehener Schriftsteller und Musiker gilt, ist in beiden Sparten seit 1974 mehrfach preisgekrönt worden. Er studierte in London, Paris und Oslo klassisches Klavier. Im Alter von 16 Jahren spielte er mit dem Philharmonischen Orchester Oslo Bela Bartoks kompliziertes 3. Klavierkonzert ein. Seit 1973 arbeitetet er genreübergreifend mit verschiedenen Musikern aus dem Klassik, Rock- und Jazzbereich zusammen. Sein erstes Album „Apning“ spielte er als Quartett mit den renommierten skandinavischen Jazzmusikern Jon Eberson (git.), Arild Andersen (bass) und Jon Christensen (drums) ein.
Der schreibende Musikpoet
In beiden Bereichen ist der Norwegen ein „Arbeitstier“, mit fast 50 Buchveröffentlichungen übertrifft sogar seine musikalische Vita mit gut 40 CD-Einspielungen. Romane, Essays, Lyriksammlungen, sein literarischer Arbeitsbereich ist vielfältig und sein Roman „Vindings Spiel“ stand monatelang auf der Spiegel Bestsellerliste. Viel Beachtung fanden auch seine Biographien über den Maler Edvard Munch und den Komponisten Edvard Grieg. Auch das Buch „Mein Weg zu Mozart“, welches 2016 erschien, fand eine große Leserschaft. Musikalisch nahm er seit 1993 viele Alben beim renommierten ECM Label auf. Zusammen mit Jazzgrößen wie zum Beispiel Jan Gabarek und Trilok Gurtu, oder dem Cellisten Davis Darling entstanden äußerst beachtenswerte Alben. Seit 2001 arbeitet er mit dem norwegischen Label Universal Music zusammen. Die Alben, die er dort seither veröffentlichte, zeichnen sich durch eine beeindruckende Vielfältigkeit und Subtilität aus. Auf allen experimentierte Bjørnstad ebenso dezent wie geschickt mit elektronischen Klängen und vertonter Poesie. 2002 erschienen von dem Pianisten zwei sehr unterschiedliche Soloalben, die er bereits 1997 an einem einzigen Tag eingespielt hatte: Während er auf “New Life” zwölf ältere Eigenkompositionen einer Revision unterzog, präsentiert er auf “The Bach Variations” zwanzig Variationen von Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge. 2006 legte Ketil Bjørnstad mit “Floating” sein erstes Album im klassischen Jazz-Trio-Format vor. Aufgenommen hat er dieses wunderbare Trio-Album mit dem Bassisten Palle Danielsson und der Schlagzeugerin Marilyn Mazur. Es stand nicht zu Unrecht mehrere Wochen auf den Spitzenplätzen der Jazz Charts.
Der bescheidene große Mann und die Faszination der Flüsse
Da steht er nun auf der Bühne der große Norweger, neben seinem Flügel, irgendwie zerbrechlich wirkend und gibt bei seiner einführenden Ansage zu, dass er nicht genau weiß, was heute Abend musikalisch passieren wird. Er ist von bewegten Gewässern fasziniert unter anderem auch vom Neckar und wird dies als gedankliche Vorlage für seinen klingenden Einstieg in den Solo-Klavierabend nutzen. Daher erklären sich auch einigen Namen seiner Alben wie „The Sea“, „The River“, oder die erfolgreiche „Floating“ Einspielung. Mit den Worten: „I will do my best“, setzt sich Bjørnstad an den Flügel und beginnt nach einigen meditativen Sekunden mit seinem Spiel. Und es fließt sofort, zuerst sanft langsam, mal etwas schneller, dann wieder aufwühlend, um sich wieder einige Augenblicke später zu beruhigen. Als Zuhörer kann man sich komplett mit verschlossenen Augen auf dieses musikalische Fließen einlassen und es regelrecht spüren. Alles geht nahtlos ineinander über, durchbrochen von vermeintlich skandinavischen Liedgut, oder volkstümlichen Melodien. Dieses großartige Klangbild, welches Bjørnstad hier mit seinen Tasten erschafft, lässt Zeit und Raum verschwinden und nach gefühlt 30 Minuten klingt dieses Kunstwerk ebenso sanft, wie es begonnen hat, aus.
Mein Weg zu Mozart
Bjørnstad erklärt, dass er Mozart schon immer faszinierend fand und der briefliche Dialog zwischen dem jungen „Wolferl“ und dem Vater Leopold Mozart, ihn bei vielen seiner Kompositionen beeinflusst hat. Schön zu hören beim zweiten „Longplayer“ an diesem Abend. Immer wieder taucht das Thema von Mozarts 20igsten Klavierkonzert im Spiel des Norwegers auf, es verliert sich nach wenigen Momenten wieder, Augenblicke später erscheinen wieder neue Klangstrukturen des Salzburger Genies, um sich dann auch wieder aus den Improvisationen Bjørnstads herauszuwinden. Manchmal prasselt dann wieder ein regelrechtes „Tastengewitter“ auf die Zuhörer nieder und wird dann wieder durch die beruhigenden Klänge eines Mozart Themas entschärft. Ganz im Flow in sich versunken beendet Bjørnstad dieses außergewöhnliche Klangerlebnis – wie nicht anders zu erwarten – mit Fragmenten des 20igsten Klavierkonzerts und zwar mit feinster Klinge gespielt. Besser geht eigentlich nicht.
Ich war eine weibliche Kuh
Den lyrisch-literarischen Teil bestreitet Bjørnstad mit Gedichten, die er in der Coronazeit verfasste und dem wohl der ein oder andere Albtraum Grunde lag. Doch auch wie bei seinen Musikstücken, gewinnt das Schöne, das Positive oder die Liebe die Oberhand. Schmunzelnd erklärt er, dass er sich in einem seiner Träume als weibliche Kuh gefühlt hat und das folgende Stück daraus entstanden ist. Wer sensibel ist, spürt in den Tönen des Klavierspiels dabei regelrecht die Freiheit dieser Kuh und das Glück auf der Weide. Eine etwas leichter konsumierbare musikalische Kost, angesiedelt irgendwo zwischen Jazz, Pop, Klassik und Filmmusik. Gelegentlich driftet sein Spiel auch in Honky-Tonk- oder Boogie-Woogie Style ab. Besonders schön gelingen ihm die Variation von Joni Mitchells „Centerpiece“, wunderbar vielfältige Klangstrukturen entstehen über diesem Thema, einfach nur glücklich machend. Am Schluss des Sets zieht Bjørnstad nochmal das Tempo rasant an und zeigt sein begeisterndes Spiel in allen Facetten. Die Zugabe „If only“ beschließt einen herrlichen und berührenden Konzertabend, der wohl in nahezu jedem Besucher einen prägenden Eindruck hinterlassen hat.
Harald Kümmel
Portraits von Ketil Bjørnstad