Misty – Erroll Garner-Story
Just sit down and play
Vorbemerkungen
Am Montag, den 13. Januar 2025 findet im Theaterhaus Stuttgart eine Vorpremiere des neuen Dokumentarfilms von Georges Gachot über Erroll Garner statt. Anschließend ein Konzert mit dem Trompeter und Komponisten Nils Petter Molvaer, der auch Filmmusik beigetragen hat. Sonntag darauf, am 19.1. 2025 um 11.00 Uhr findet diese Vorpremiere in den Museum-Lichtspielen Tübingen statt. Hier ein anschließendes Konzert mit Florian Dohrmann (Bass), Anselm Krisch (Piano) und Dieter Schumacher (Drums) und Titel von Erroll Garner! Am 20.1.2025 wird auf Radio 700 von 18.55 – 21.00 Uhr ein Radiofeature des Autors mit Moderation von Uwe Lorenz über den Pianisten gesendet. Integriert ist ein Interview mit dem Filmemacher Gachot. Klaus Huckert hat vorab einige Informationen für unsere Jazzreportagen zur Verfügung gestellt.
Jazzfreunde kennen alle den Jazz-Standard „Misty“. Dieser zählt zu den bekanntesten Jazzstandards weltweit und wurde 1954 von Erroll Garner komponiert. Mit dem später hinzugefügten Text von Johnny Burke erlangte das Stück auch im Pop- und Country-Genre große Popularität. Der Titel „Misty“ (zu Deutsch „neblig“ oder „dunstig“) entstand während eines Fluges von Erroll Garner zwischen San Francisco, Denver und Chicago. Inspiriert von einem beeindruckenden Regenbogen und den sanften Regenschleiern, die vorbeizogen, entwickelte er die Melodie. Dabei dienten seine Knie als Klaviatur. Es ist bemerkenswert, dass Garner die Ballade zunächst nicht notierte, da er weder Noten lesen noch schreiben konnte. Der Titel erlebte 1971 einen regelrechten Popularitätsschub, als es als Titelmelodie im spannenden Thriller „Play Misty for me“ mit und von Clint Eastwood verwendet wurde.
Herkunft von Erroll Garner
Erroll Garner wurde am 15. Juni 1921 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren. Die Familie bestand aus seinem Vater, seiner Mutter und sechs Geschwistern – drei Schwestern und zwei Brüdern. Einer seiner Brüder, Linton Garner, sollte später ebenfalls zu einem bekannten Jazzmusiker werden.
Der Vater von Erroll Garner war als Wartungsmitarbeiter in einem Elektrounternehmen sowie als Koch tätig. Er war ein leidenschaftlicher Musiker, der Gitarre, Mandoline und Saxophon in einer Tanzband spielte. Die Mutter sang im Kirchenchor und erfreute sich daran, am Klavier zu musizieren. Musikalische Bildung hatte im Hause Garner einen hohen Stellenwert. Im Gegensatz zu seinen Eltern verweigerte Erroll jedoch die formale musikalische Ausbildung. Er verschwand stets, wenn die Klavierlehrerin Unterricht im Hause Garner gab. Versteckt lauschte er den Tonfolgen und spielte sie schließlich am Ende der Unterrichtsstunden nach.
Bereits im Alter von drei Jahren offenbarte sich sein musikalisches Genie und Gehör. Er konnte Melodien am Klavier nachspielen, ohne formellen Unterricht oder theoretische Kenntnisse zu haben. Bei einem Treffen mit Professoren einer Musikhochschule wurde sein Talent als „gottbegnadet“ eingeschätzt; sie waren der Meinung, dass systematischer Unterricht dieses außergewöhnliche Talent gefährden könnte.
Jugend und erste Tätigkeiten
Anfang der 1930er Jahre erzielte Erroll Garner erste Erfolge in einer Kinder-Theatergruppe namens „Kann-D-Kids“ (Candy Kids). Diese Gruppe trat in kleinen Theatern auf und war regelmäßig in einer Radioshow in Pittsburgh zu hören. Von 1935 bis 1940 besuchte der junge Garner eine Berufsschule, wo seine schulischen Leistungen insgesamt eher bescheiden waren; lediglich im Fach Musik zeigte er herausragende Fähigkeiten, die besonders von seinem Musiklehrer gefördert wurden.
Unter seinen Mitschülern befanden sich zwei zukünftige Jazzgrößen: Ahmad Jamal und Billy Strayhorn, die Schulfreunde von ihm waren. Im Jahr 1938 begann Erroll seine Karriere als Berufsmusiker in der Band des Klarinettisten und Altsaxophonisten Leroy Brown. In dieser Zeit knüpfte er erste Bekanntschaften mit den Andrews Sisters, Count Basie und Lionel Hampton.
Nachdem er in verschiedenen amerikanischen Städten aufgetreten war, zog der Pianist 1944 auf Anraten von Billy Strayhorn in die Jazzmetropole New York. Dort erzielte er seinen entscheidenden Durchbruch als Jazzmusiker im Trio/Quartett unter der Leitung des Bassisten Slam Stewart. In den unterschiedlichen Formationen des Bassisten trat er als Nachfolger des renommierten Pianisten Art Tatum auf. Trotz ihrer Konkurrenz entwickelten beide Pianisten eine lebenslange Freundschaft und schätzten sich gegenseitig, ohne einander Neid für ihr Können entgegenzubringen.
Im Jahr 1947 kam es in Hollywood zu Plattenaufnahmen mit dem Schöpfer des Bebop, dem Altsaxophonisten Charlie Parker. Erroll Garner bewies dabei, dass er in mindestens zwei Jazzwelten – Swing und Bebop – gleichermaßen virtuos musizieren konnte.
Der Erfolgsweg von Erroll Garner
Ab den 1950er Jahren trat Erroll Garner vermehrt in Fernsehsendungen auf, unter anderem bei Ed Sullivan und Steve Allen. Besonders erfolgreich war er mit der „Piano Parade“, die Künstler wie Art Tatum, Meade Lux Lewis und Pete Johnson vereinte und durch die USA tourte. Im Jahr 1955 nahm er zusammen mit dem Bassisten Eddie Calhoun und dem Schlagzeuger Denzil Best ein Konzert in Carmel auf. Die daraus resultierenden Platten zählen zu den erfolgreichsten Aufnahmen im Jazz und trugen maßgeblich zu seinem Ruf als genialer Pianist bei. In der Folgezeit arbeitete er unter anderem mit Größen wie Coleman Hawkins, Vic Dickenson und weiteren Star-Jazzern wie Georgie Auld zusammen.
1955 unternahm Garner seine erste Europatournee, während der er in Paris den „Grand Prix du Disque“ erhielt. Nach seiner Rückkehr in die USA wurde er zum Poll-Gewinner der Zeitschrift „Downbeat“ gekürt. Bis 1974 unternahm er ausgedehnte Tourneen rund um den Globus. Leider litt Garner, ein leidenschaftlicher Raucher, an Lungenkrebs und verstarb am 2. Januar 1977 in Los Angeles.
Wenn man den Erfolgsweg von Erroll Garner betrachtet, führt kein Weg an seiner Managerin Martha Glaser vorbei. Von Anfang der 1950er Jahre bis zu Errolls Tod im Jahr 1977 war sie mit höchstem Engagement, Weitsicht und kommerziellem Geschick für den außergewöhnlichen Pianisten tätig. Sie übernahm die Akquisition von Auftritten, die Terminplanung, Vertragsverhandlungen sowie die Gestaltung der Platten-Cover. Laut verschiedenen Quellen agierte sie wie „eine Spinne im Netz“ und hatte „alle Fäden in der Hand“. Ein Manager der Plattenfirma charakterisierte sie als „Erzengel und Dämon“. Aus Erzählungen geht hervor, dass Erroll zu ihr eine Beziehung pflegte, die man als die eines „folgsamen Kindes“ beschreiben könnte. In einem Aufsehen erregenden Prozess half sie, dass der Pianist bei seinem Rechtsstreit gegen Columbia Records Erfolg hatte. Sie sorgte auch dafür, dass in seinen Konzerten in den USA der 1950er- und ’60er-Jahre keinerlei Rassentrennung (Segregation) stattfand.
Erroll Garner hinterließ ein beeindruckendes Erbe von über 200 Kompositionen, darunter „Misty“, einer der meistgespielten Jazzsongs des 20. Jahrhunderts. Garner verkörperte die Kunst der Improvisation: Die gefürchtete Einleitung „Just sit down and play“ unter seinen Bandmitgliedern kündigte oft nicht geprobte Plattenaufnahmen oder Konzerte an. Besonders bekannt war er für seine überraschenden Tonartwechsel, die gelegentlich zu Verzweiflung bei seinen Mitmusikern führten. Seine Kollegen und Wettbewerber, darunter Oscar Peterson, Thelonious Monk, George Shearing und Dave Brubeck, waren ihm freundschaftlich verbunden und schätzten sein außergewöhnliches Talent zutiefst. In den frühen Jahren seiner Karriere ist ein deutlicher Hang zum Stride-Piano und zu Balladen erkennbar. Später zeigt sich eine Tendenz den Stil von Art Tatum zu adaptieren, jedoch stets mit eigenen kreativen Ideen. Ab dem Jahr 1967 treten lateinamerikanische Rhythmen verstärkt in den Vordergrund. Häufig versucht er, orchestrale Elemente in seinen Sound zu integrieren, wie man sie von Big Bands kennt.
Quellen:
Bücher
Ernst Burger: Erroll Garner – Leben und Kunst eines genialen Pianisten, ConBrio Verlag (2006)
Anmerkung: Das Buch ist vergriffen. Relativ selten taucht ein Exemplar dieses exzellenten Buches in Gebraucht-Börsen auf. Sehr viele Fotografien, eine gute Diskographie, hervorragende Recherche und musikwissenschaftliche Analysen sind ein Genuss für den Leser. Ernst Burger widmete dieses Buch seinem Freund James Doran (siehe übernächsten Buchtitel)
Michel Conversin: Erroll Garner, BD Jazz Editions Nocturne 2004 inkl. 2 CDs
Sehr schönes Booklet mit vielen Comic-artigen Zeichnungen zu Erroll Garner. 2 CDs inbegriffen.
James M. Doran: Erroll Garner – The Most Happy Piano (The Centennial Edition 1921 – 2021), Independently published (10. Dezember 2021), Keine Verlagsangabe, erhältlich beispielsweise bei Amazon
Anmerkung: Die Mutter aller Beiträge über Erroll Garner. James Doran war ein Freund von Erroll. Wunderbare Geschichtenerzählungen, Interviews mit Familienangehörigen machen dieses Buch lesenswert.
Videos/DVDs/CDs
Errol Garner: Live in ’63 & ’64, Jazz Icons-Serie 2009
Vielzahl von Videos bei Youtube, z.B. Erroll Garner 1972 in Italien mit Erroll Garner (Piano), Ernest McCarty (Bass), Jimmie Smith (Drums), Jose Mangual (Conga)
CDs
Erroll Garner: Mambo Moves, Mercury, 1954
Erroll Garner: 2 CDs als Beilage zum Booklet von Michel Conversin, BD Jazz (Aufnahmen von 1945 – 1952)
Errol Garner: Concert by the Sea (Columbia, 1955 – Live in Carmel, Kalifornien) mit Eddie Calhoun (Bass), Denzil Best (Drums)
Errol Garner: A Night at the Movies, Octave Remastered Series 2019
Erroll Garner: Symphony Hall Concert / Liberation in Swing: Centennial Collection,Mack Avenue/in-akustik 2021
Klaus Huckert
Unser Film- und Konzertbericht: MISTY – Dokumentarfilm von Georges Gachot
Webseite des Regisseurs Georges Gachot
Webseite zu Eroll Garner