Nils Wogram: Root 70 im Pappelgarten Reutlingen 2020
Nils Wograms Root 70 begeistern gut 50 Besucher im Reutlinger Pappelgarten
Nils Wogram (trb)
Hayden Chrisholm (as)
Matt Penman (b)
Jochen Rückert (dr)
Reutlingen, 22.9.2020
Kein Jazz, der sich bequem anlehnt
Nicht einfach, diese Musik einzuordnen: Rund 50 Besucher kamen am Montagabend in den Reutlinger Pappelgarten, um dem Jubiläumskonzert von Nils Wograms Quartett Root 70 beizuwohnen – ein emotionales Erlebnis, gepaart mit gewagtem Grenzgängertum.
Wenn Nils Wogram Norweger wäre, wäre Root 70 vermutlich längst ein Welterfolg. Der Posaunist kommt aber aus Braunschweig. Ihn als einen der virtuosesten Bläser des europäischen Jazz zu bezeichnen, ist sicherlich keine Übertreibung. Seit mehr als 25 Jahren ist der 47-Jährige als gefragter Posaunist unterwegs (unter anderem mit der Band Underkarl) und mit etlichen eigenen Projekten aufgefallen. Die Band Root 70, mit der er in diesem Herbst sein 20-jähriges Jubiläum feiert, ist eine jener Gruppen, denen man jetzt schon eine Art Legendenstatus für spätere Zeiten prophezeien darf. In der Musik des 2000 gegründeten Quartetts ist die Vergangenheit zwar immer aufgehoben, sie wird aber kräftig durchgeschüttelt.
Authentischer europäischer Jazz
Gleichzeitig haben Nils Wogram (Posaune), Hayden Chisholm (Altsaxofon, Harmonium), Matt Penman (Bass) und Jochen Rückert (Schlagzeug) den Jazz auf den Stand des Jahres 2020 gebracht: Ihre Musik folgt keinem dieser zeitgemäß erscheinenden Crossover-Konzepte und sie macht sich nicht die Mühe, aktuelle Popströmungen zu assimilieren. Nirgends werden elektronische Soundgeneratoren zugeschaltet, alles wird von Hand erledigt. Es ist authentischer europäischer Jazz, der seine Ursprünge im Bop und Hardbop hat und nichts von dem verachtet, was seither geschehen ist.
Frappierend komplex
Eine der Tugenden dieser Musik und ihr vielleicht wichtigstes Stilmittel ist ihre enorme Geschwindigkeit und die Simultaneität unterschiedlich gerichteter Ereignisse. Sie hat eine hohe Grundnervosität, konterkariert von einer bemerkenswerten Lässigkeit. Beides sind Seiten der selben Medaille. Sie ist nicht unbedingt strukturell revolutionär, aber frappierend komplex und überragend gut gespielt. Die Themen bestehen aus langen melodischen Linien voller kleinster Notenwerte, vertrackter Intervalle und Mikrotonalität, parallel oder unisono meist von Wogram und Chrisholm gespielt, mit größter Präzision und Leichtigkeit und mit einer Fülle an Intonationsdetails. In seinen Soli verliert Chrisholm nie seine neuseeländisch verträumte Anmut, Wograms Phrasierung ist rhythmisch prägnant und atemberaubend flüssig. Die Rhythmusgruppe, beide corona-konform mit Mundschutz ausgestattet, hält bei diesem hohen Level mühelos mit. Trotz des hörbaren Geschichtsbewusstseins lehnt die Musik von Root 70 sich nirgends bequem an, sondern klingt eigenständig, expressiv und vorbildlos. Sie hat einen bezwingenden physischen Charme und obwohl sie etliche Free-Elemente aufweist, hat sie immer auch ein starkes Blues- und Swingfeeling. Am Ende dieses musikalischen Vulkanausbruchs wird das auf Abstand sitzende Publikum noch mit zwei balladesken Zugaben verwöhnt.
Jürgen Spieß
Portraits von Nils Wogram
Portraits von Hayden Crisholm
Portraits von Matt Penman
Portraits von Jochen Rückert