Tigran Hamasyan Piano solo beim Jazzfestival Esslingen 2023
Tigran Hamasyan – Piano
Esslingen, 19.10.2023
Ferne und vertraute Heimaten
Tigran Hamasyan eröffnet das Esslinger Jazzfestival 2023
Ikonenhafte Bilder: Schwarzes Haar, schwarze Jacke, schmal und ernst wirkt er, Tigran Hamasyan, als er aus dem Chor der Esslinger Stadtkirche heraustritt. Brennende Kerzen auf dem Altar, ein effektvoll ausgeleuchtetes Kruzifix. Im Hintergrund himmelstrebende Gotik, blau, rot und violett illuminiert. Davor der schwarze Flügel, an dem der Pianist aus Armenien Platz nimmt. Jetzt kommt Musik zu den Bildern, der Gekreuzigte tritt in den Hintergrund. Einzelne, behutsame aber bewusst gesetzte Töne, ein erstes, kleines, melodisches Stück, das nahtlos übergeht in eine Art Grundpuls, auf den sich in den folgenden 20 Minuten Themen, Melodien, Improvisationen aufbauen und wandeln, verschwinden und wiederkehren. Dann eine erste Zäsur. Beifall. Atemholen. Wow! Was für eine Energie.
Die große Form
Es ist die „große Form“, die Königsdisziplin; das freie Spiel, das in der gut besuchten Kirche mit ihrer großartigen Akustik sehr gut ankommt, das Publikum erreicht. Tigran Hamasyan wechselweise tief über die Tasten gebeugt, fast scheint er sie zu berühren, hört hinein, in sich, in seine Musik, fühlt, spürt den Klang, nimmt ihn auf, lässt ihn wirken, sammelt Energien; dann wieder aufrecht sitzend, um in schier unglaublicher Geschwindigkeit rhythmisch vertrackt – versetzte Figuren mit linker und rechter Hand gegen – aber auch miteinander in irrwitzige Höhen zu schrauben. Mag sein, dass da immer mal wieder eine Jazz – Standard – Phrase auftaucht, dass sich in den Exkursionen von Tigran Hamasyan Motive, Teile, ganze Stücke wiederfinden, die er, ob solo oder auch mit einem Powertrio auf CD“s veröffentlicht hat.
Reise ins Innere der Musik
Was er in den eineinhalb Stunden beim Auftaktkonzert des 9. Esslinger Jazzfestivals darbot war eine leidenschaftliche, innige und hochenergetische Reise ins Innere der Musik. Tigran Hamasyan ist natürlich geprägt von der Musik seines Heimatlandes und immer wieder, eigentlich ständig finden sich in seinem Spiel Harmonien, Rhythmik, sind da Figuren, Schnörkel, blitzartig eingefügte Passagen, die sich abheben von der gewohnten Jazzharmonik. Auch ohne einen genauen Begriff von armenischer Musik vorauszusetzen, führt uns diese Konzert in ferne und doch vertraute Heimaten, in hochinteressante Landschaften und Sphären. Tigran Hamasyan unterlegt sein Pianospiel immer wieder mit vocal percussion, er singt und pfeift – auch in seinen großen, weltumspannenden Improvisationen – und erdet damit seine Musik. Die hat sich inzwischen ziemlich gelöst von der sakralen Umgebung und sich wie die flirrenden Lichteffekte im mächtig hohen Kirchenschiff ausgebreitet. Das begeisterte Publikum erklatscht sich zwei Zugaben. Beeindruckend, großartig und grenzüberschreitend dieses Auftaktkonzert.
Tom Hagenauer
Portraits von Tigran Hamasyan