Will Vinson Quartet im Pappelgarten Reutlingen 2017
Will Vinson, saxophon
Kevin Hays, piano
Matt Brewer, bass
Jeff Ballard, drums
Reutlingen, 3.9.2017
Mit viel Atem und Fantasie
Das Will Vinson Quartet glänzt im Pappelgarten mit melodischen Improvisationen
Was bedeutet eigentlich „dramatische Empfindlichkeit“ im Jazz? Die so umschriebene Vorankündigung weckte jedenfalls einiges an Interesse, denn annähernd 80 Besucher kamen unlängst in den Reutlinger Pappelgarten, um die New Yorker Formation des ursprünglich aus London stammenden Altsaxofonisten Will Vinson zu erleben. Diejenigen, die sich für das TV-Duell zwischen Merkel und Schulz entschieden hatten, verpassten ein farbiges, bereicherndes Konzert.
Das erstmals in der Region auftretende Quartett geht mit kompakt-swingender Jazzmusik ganz und gar unakademisch zu Werke. So entwickelt sich – vor allem nach der Pause – ein kraftvolles Zusammenspiel voll überraschender und virtuos ausgeführter Tempo- und Stimmungswechsel. Will Vinson (Alt- und Sopransaxofon), Kevin Hays (Piano), Matt Brewer (E- und Kontrabass) und Jeff Ballard (Drums) nehmen sich bei ihren Kompositionen gerne den Jazz von Cannonball Adderley zum Vorbild. Nicht nur, dass die gleichen Instrumente wie bei dieser legendären Formation verwendet werden, auch die Eigenkompositionen atmen Adderleys Geist. Doch die vier New Yorker sind keineswegs in den sechziger und siebziger Jahren stehengeblieben, sondern integrieren aktuelle Funk- und Modernjazz-Elemente in ihre Musik.
Eine hoch entwickelte Spielkultur
Locker, lässig, nicht überperfekt und akademisch, sondern extrem spielfreudig geht das Will Vinson Quartet ans Werk. Vor allem das Spiel des seit 18 Jahren in New York lebenden Bandleaders ist abgeklärt und mit einem überaus warmen Ton ausgestattet. Voluminös und mit einer Fülle an Klangfarben behält er selbst bei ausschweifenden Improvisationen den Überblick und den Bezug zu den Themen. Beeindruckend auch, wie dicht und packend das Quartett insgesamt agiert. Da wird weder mit aufbrausenden Soli, noch mit spritzigen Funk-Ausflügen gespart. Gleichzeitig hören wir einen Saxofonisten, der nicht nur klingen kann wie das Nebelhorn der Titanic, sondern auch den Atem und die Fantasie hat, sich ein wenig zu verlieren in den Seitensträngen einer Melodie und dazu wie ein flinker Kartenspieler Motiv um Motiv aus dem Ärmel schüttelt. Dynamik ist ihm ein wichtiges Gestaltungsmittel, auch steht ihm eine sorgfältig ausgearbeitete, große und subtile Klangwelt zur Verfügung und eine hoch entwickelte Spielkultur. Die zeigt sich auch bei Kevin Hays am Piano und Keyboard: Bei allem, was er tut, ist die Energie spürbar, mit der er agiert. Nichts, was auf der Bühne geschieht, entgeht ihm, er reagiert schnell, klar und genau. Die melodische Entwicklung seiner Soli ist voller Überraschungen und dazu formbewusst. So eine Deckungsgleichheit von Spontaneität und Geplantheit bekommt man in der Tat selten zu hören. Vor allem bei den Stücken des neuen Albums „Perfectly out of Place“ läuft Kevin Hays zu Topform auf.
Dieses Stück kann ich nur spielen, wenn alle aufstehen und tanzen
Zwischen den Eigenkompositionen radebrecht Will Vinson mit sympathischem Zungenschlag auf Deutsch und schafft es sogar, das Publikum geschlossen zum Tanzen zu animieren: „Dieses Stück kann ich nur spielen, wenn alle aufstehen und tanzen“, macht er den Besuchern zu Beginn des zweiten Sets Beine. Überaus erfolgreich gestaltet sich auch der Appell, seinen anstehenden Familienzuwachs durch den Kauf seines neuen Albums zu unterstützen: „Meine Frau und ich bekommen im November ein Kind. Es ist also sehr wichtig, dass Sie eine CD kaufen“, so der Saxofonist mit spitzbübischem Grinsen. Die Reutlinger Jazzfreunde nehmen diese verbindliche Art begeistert auf. Kein Wunder, sie erleben neben einem sympathischen Moderator ein ausgezeichnetes Konzert. Somit ist es auch nebensächlich, was sich hinter der vielsagenden Bezeichnung „dramatische Empfindlichkeit“ verbirgt.
Jürgen Spieß
Portraits von Kevin Hays
Portraits von Jeff Ballard